Die Geschichte der Bioökonomie als Weg in die Zukunft
22.08.2024 // hb
Die Diskussion um den Klimawandel läuft seit vielen Jahren, vielleicht Jahrzehnten. Inzwischen ist schon anerkannt, dass dies auch mit der Ausbeutung der fossilen
Ressourcen zu tun hat. Experten sehen die dringende Notwendigkeit, den Klimawandel zu stoppen, will man den Planeten Erde und damit die Lebensgrundlage der Menschheit retten. Nicht weniger alt
ist die Diskussion über die Ernährung mit Bioprodukten. Nachhaltigkeit ist nicht nur ein Modewort. Ganz aktuell ist die Diskussion über Landwirtschaft. Erleben wir auch hier eine „Zeitenwende“?
Ist dies die Geburtsstunde einer neuen Branche oder ist es der Aufbruch in ein neues Denken? Die "Bioökonomie" macht mehr und mehr von sich reden; wir wollen die Geschichte der Bioökonomie
betrachten und im Interview mit Dr. Christian Patermann einen Blick in aktuelle Entwicklungen versuchen.
Download-Links verschiedener Unterlagen finden sich am Ende des Artikels.
Seit gut 20 Jahren wird der Bioökonomie in diesem Zusammenhang große Bedeutung beigemessen. Was aber bedeutet eigentlich „Bioökonomie“? Die Bundesregierung sieht gemäß ihrer Definition darin die Erzeugung, Erschließung und Nutzung biologischer Ressourcen, Prozesse und Systeme, um Produkte, Verfahren und Dienstleistungen in allen wirtschaftlichen Sektoren im Rahmen eines zukunftsfähigen Wirtschaftssystems bereitzustellen.
Die OECD hat 2004 erstmals eine Definition der Bioökonomie geliefert. Eine biobasierte Wirtschaft wurde definiert als ein System, das Bioressourcen, Biotechnologie und Bioprozesse einsetzt, um Bioprodukte zu erzeugen und damit auch Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen.
Der Begriff „Bioökonomie“ ist allerdings deutlich älter als 20 Jahre, wenngleich er zumindest teilweise eine andere Bedeutung hatte. In den 1920er Jahren beschrieb der russische Biologe Fedor I. Baranov damit die Fischereiwirtschaft. Der rumänisch-US-amerikanische Mathematiker und Statistiker Nicholas Georgescu-Roegen verwendete in den 1970er und 1980er Jahren den Begriff für eine radikal ökologische Perspektive auf die Wirtschaft.
Bioökonomie - neues Denken, neues Handeln. Neue Zukunft?
Die Bioökonomie im heutigen Sinn bedeutet, dass ganz allgemein ein neues Denken und Verhalten, eine Umstrukturierung der Landwirtschaft, der Kampf gegen die Verschwendung von Ressourcen und das Streben nach Suffizienz durch die Verbraucherinnen und Verbraucher für unausweichlich gehalten wird. Die Landwirtschaft spielt hier tatsächlich auch eine Rolle, weil sie gemäß der 3-Sektoren-Hypothese den Primärsektor darstellt. Mag sein, dass die Landwirtschaft heute nur mehr 0,6 % zum BIP besteuert, aber heute ernährt ein Landwirt immerhin bis zu 140 Menschen. Nicht zuletzt deshalb ist es wichtig, mit den getätigten Verbräuchen von Ressourcen innerhalb der Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit der Erde zu bleiben.
Die Bioökonomie ganz allgemein umfasst gleichwohl sehr viel mehr Anwendungsfälle und ist tatsächlich in der Lage, die Transformation von einer Erdöl-basierten
Wirtschaft hin zu einer Marktwirtschaft zu vollziehen, in der fossile Ressourcen durch nachwachsende Rohstoffe ersetzt werden. Die Nutzung biologischer Ressourcen, Prozesse und Systeme ist
geeignet, Produkte, Verfahren und Dienstleistungen in allen wirtschaftlichen Sektoren bereit zu stellen. Auf diese Weise kann ein zukunftsorientiertes Wirtschaftssystem etabliert
werden.
Mit der Natur die Zukunft gestalten
Basis für eine solche Bioökonomie kann unter anderem auch die Biotechnologie sein. Aus ihr abgeleitete biobasierte Produkte können erheblich zur Lösung vieler Herausforderungen beitragen. Zu diesen Herausforderungen gehören der Klimaschutz, die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen, die Erhaltung der Natursysteme, eine sichere Versorgung mit Lebensmitteln oder auch die menschliche Gesundheit. Doch für eine breite Anwendung der Biotechnologie und Bioproduktion in der EU gibt es noch einige Hindernisse zu überwinden. Dies wurde im März 2024 im Papier „Mit der Natur die Zukunft gestalten“ der Europäischen Kommission beschrieben. Auf dieses Papier kommen wir weiter unten ausführlicher zu sprechen.
In diesem Papier werden zahlreiche Maßnahmen vorgestellt, die zur Lösung der offenen Probleme beitragen sollen. Einige Lösungswege dürften keine Spaziergänge sein,
aber die Identifizierung ist ein erster wichtiger Schritt. Ferner werden eine Reihe aktueller Aktivitäten beschrieben, die auf dem Weg zur Realisierung einer umfassenden Bioökonomie durchzuführen
sind. Man darf sicher gespannt sein, was denn die Bürokratie zu alledem zu sagen hat. Außerdem werden die vielen Entwicklungen und Aktivitäten wohl auch Geld kosten; hier braucht es jeweils ein
im Papier nicht beziffertes Budget. Dennoch: Darf man bei diesem Papier der EU-Kommission hoffen, dass nun tatsächlich etwas in Bewegung kommt? An dieser Stelle wollen wir den langen Weg der
Bioökonomie betrachten.
Meilensteine der Bioökonomie
Die Bioökonomie ist heute auf einem gutem Weg. Ihre Geschichte aber ist schon lang. Wir stellen wichtige Meilensteine kurz vor.
1972 führte eine Gruppe von Wissenschaftlern des Massachusetts Institute for Technology (MIT) eine Studie im Auftrag des Club of Rome durch, die unter dem Titel „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht und in mehr als 29 Sprachen übersetzt wurde. Von dem Buch wurden bis heute mehr als 30 Millionen Exemplare verkauft.
Die Studie besagt, dass bis zum Jahr 2100 die Umwelt irreparabel gestört und die Rohstoffquellen der Erde ausgeschöpft sind. Als Folge dessen würde die globale
Weltwirtschaft zusammenbrechen und die Bevölkerungszahl unaufhaltbar sinken. Die Studie war wohl aus wissenschaftlicher Sicht wenig überzeugend, viele nahmen sie nicht ernst. Aber sie rückte die
Endlichkeit der natürlichen Ressourcen und die Dringlichkeit einer internationalen Umweltpolitik nachhaltig ins Gedächtnis.
Anfang der 2000er Jahre entwickelten sich erste Aktivitäten zur Bioökonomie. Die EU entwickelte eine eigene Strategie, in der die Biotechnologie eine deutliche Rolle spielt. Deren „Hebelfunktion“ für die Bioökonomie wird als Folge der „biotechnologischen Revolution“ (Fermentation, Gentechnik, etc.) betrachtet.
2005 stellte der EU-Forschungskommissar Janez Potocnik das Konzept einer „Wissensbasierten Bioökonomie“ (KBBE) vor.
Im Mai 2007 fand im Rahmen des Biotechnik-Kongresses „BioPerspectives“ in Köln die Konferenz „En Route to the
Knowledge-Based Bio-Economy (KBBE)“ statt, in der ein Expertenpapier, das „Cologne Paper“ unterzeichnet wurde. Dieses skizzierte die Perspektiven einer KBBE für die nächsten 20 Jahre. Einer der
Unterzeichner war Dr. Dr. hc Christian Patermann, seinerzeit Direktor der EU-Kommission. Patermann gilt heute als „Vater der Bioökonomie“ in Europa.
2009 wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) als ehrenamtliches und unabhängiges Beratungsgremium für die Bundesregierung der „Bioökonomierat“ eingerichtet, die erste Beratungsstruktur zur Bioökonomie weltweit. Der aktuelle Bioökonomierat wurde 2020 berufen; dessen Arbeit wurde 2024 beendet.
Die OECD formuliert in dem Strategiepapier “The Bioeconomy to 2030“ Empfehlungen für eine neue politische Agenda zum gesellschaftlichen Wandel zu einer Bioökonomie bis 2030.
2012 (Februar) wurde die erste europäische Bioökonomie-Strategie veröffentlicht. Sie behandelte Themen wie Ernährung, nachhaltiges Ressourcenmanagement, Abkehr von fossilen Ressourcen, Senkung der CO2-Emissionen, Schaffung neuer Jobs und Förderung der Wettbewerbsfähigkeit. Nur zwei Monate später stellten die USA ihre Bioökonomie-Strategie vor.
2013 beschloss das Bundeskabinett die „Nationale Politikstrategie Bioökonomie“ als weiteren Meilenstein für eine biobasierte, nachhaltige Wirtschaft in Deutschland.
Agenda 2030 und 17 Ziele
2015 verabschiedeten die Vereinten Nationen im Rahmen der „Agenda 2030“ die bekannten 17 Nachhaltigkeitsziele
(Sustainable Development Goals, SDGs) für eine bessere Zukunft. Diese Ziele sollen alle Länder der Welt umsetzen, um so den Wohlstand zu fördern und gleichzeitig unseren Planeten zu schützen. Die
Agenda wurde von den 193 Staats- und Regierungschefs beschlossen.
2018 wurde die EU-Strategie aus 2012 noch einmal angepasst. Die Strategie formuliert drei Hauptziele:
q Ausweitung und Stärkung der biobasierten Sektoren, um die Bioökonomie an sich und den Wohlstand
ganz allgemein zu sichern
q Schnelle europaweite Einführung der Bioökonomie, um das Potenzial in den Mitgliedsstatten zu sichern
q Schutz des Ökosystems und Erforschung der ökologischen Grenzen der Bioökonomie, um den Bedrohungen
und Herausforderungen zu begegnen.
Spätestens in 2025 wird die EU-Strategie von 2018 erneuet weiterentwickelt werden müssen.
2019 wurde von der Europäischen Kommission der „Europäische Green Deal“ beschlossen, nach dem eine Klimaneutralität bis 2050 erreicht werden soll. In einem ersten Schritt müssen die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 % gegenüber dem Stand von 1990 gesenkt werden. Dies bedarf einer Neuausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft in vielen Bereichen. Damit stehen Unternehmen aus ressourcen- und energieintensiven Sektoren (auch die Landwirtschaft) vor einer gewaltigen Transformationsaufgabe. GreenTec-Firmen oder Anbieter von Umwelt- oder Energiedienstleistungen können dagegen stark vom Green Deal profitieren.
2020 hat die Bundesregierung die 2013 vorgestellte Nationale Bioökonomiestrategie weiterentwickelt. Mit der Strategie legt die Bundesregierung die Leitlinien und Ziele ihrer zukünftigen Bioökonomiepolitik fest. Sie baut auf der „Nationalen Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030" und der „Nationalen Politikstrategie Bioökonomie" auf und bündelt fortan die Forschungsförderung und die politischen Rahmenbedingungen zur Bioökonomie.
Bioökonomie in der EU und weltweit
2024 stellte die Europäische Kommission das oben bereits angesprochene und vorgestellte Papier „Mit der Natur die Zukunft gestalten“ vor.
Im Zentrum der EU-Strategie stehen heute verschiedene Sektoren und Wirtschaftsbereiche, die mit Biomasse umgehen (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Chemie, Biotechnologie und Energie), sowie die Aufwertung bestehender bio-basierter Lieferketten durch Produktentwicklung und Mehrwertsteigerung. Diese Ziele sollen insbesondere durch die effizientere Umwandlung von biogenen Rohstoffen in so genannten Bioraffinerien – analog zur Erdölraffinerie – erreicht werden.
Die in den EU-Bioökonomiestrategien vorgestellte Interpretation der Bioökonomie ist Gegenstand von Forschungsförderungen wie dem wissenschaftlichen Forschungsförderprogramm „Horizon Europe“ sowie politischer Programme wie dem europäischen Green Deal. Bioökonomiestrategien sind in erster Linie Forschungsstrategien, die aber auch Vorstellungen umfassen, wie der Weg hin zu einer bio-basierten Wirtschaft und einer so wirtschaftenden Gesellschaft aussehen soll.
Das publizierte Papier beschreibt die aktuellen Herausforderungen und Hindernisse zur breiten Nutzung der Biotechnik und schlägt Maßnahmen vor, um diese Herausforderungen zu überwinden. Dabei werden auch Möglichkeiten zur Förderung des Engagements und der Zusammenarbeit aufgezeigt. Das Papier listet zahlreiche Beispiele für Biotech-Anwendungen auf. Profitieren können der Wasserschutz, die Energieversorgung, die Landwirtschaft und Ernährung, die Gesundheit und auch die Industrie in zahlreichen Anwendungsbereichen. Getragen wird das System auch durch eine qualifizierte Kreislaufwirtschaft. Große Bedeutung hat die Biotechnik in den Feldern Gesundheit, Lebensmittel, Holzwerkstoffe und marine Biotechnologie.
Anmerkung der Redaktion:
Kurz nach den Wahlen zum Europaparlament bleibt zu hoffen, dass dieses jetzt vorgelegte Programm energisch weiter vorangetrieben wird. Hier würde man sich im
übrigen etwas mehr Entschlossenheit, verbunden mit guter Kommunikation und vorausschauender "Bio-Diplomatie" wünschen. Damit ist nicht die Übertragung von "höher-schneller-weiter" auf morgen
gemeint. Diese sollte nun wirklich überholt sein. Was wir brauchen, ist ein gutes und wertschätzendes Miteinander, zukunftsorientiertes Handeln und einen gesunden Planeten.
Interview mit Dr. Christian Patermann
Über Bioökonomie haben wir vom RheinZeiger schon häufig berichtet. Inzwischen ist das Konzept einer „Wissensbasierten Bioökonomie“ fast 20 Jahre alt. Soeben konnten
wir das neue Papier der EU „Mit der Natur die Zukunft gestalten“ lesen. Aus diesem Anlass führten wir ein Gespräch mit Dr. Christian Patermann, der in seiner Zeit als Direktor bei der
Europäischen Union die Bioökonomie ganz wesentlich geprägt und weiterentwickelt hat. Dr. Christian Patermann ist uns gut bekannt; wir verweisen auf unser erstes Interview mit ihm, nachzulesen
hier.
RheinZeiger: Herr Dr. Patermann, Sie haben In Ihrer aktiven Zeit bei der EU Kommission die Bioökonomie engagiert vorangebracht und geprägt. Was ist in den letzten 20 Jahren aus der Bioökonomie geworden?
Dr. Christian Patermann: Die Bioökonomie umfasst seitdem im wesentlichen vier Elemente. Dazu
gehören
(1) die Nutzung biologischer (erneuerbarer) Ressourcen und der Prinzipien der Biologie
(2) Integration neuen Wissens aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Technologien,
insbesondere in der Kombination von Biotechnologien, Lebenswissenschaften, Nanotechnologien,
Künstlicher Intelligenz, etc.
(3) Beitrag und Teil der sich abzeichnenden biologischen und/oder digitalen Transformation
(4) Kooperationen zur Erreichung der 17 Nachhaltigkeitsziele, zur Umsetzung einer Kreislaufwirtschaft
sowie zur Umsetzung einer Green Economy.
Da ist die Biotechnologie, die zahlreiche Disziplinen und Technologien umfasst und so unglaublich viel neues Wissen in sich vereint. Eine Kombination der Biotechnik mit Nanotechnologien und etwa der Künstlichen Intelligenz eröffnet unglaubliche Möglichkeiten.
Wir befinden uns prinzipiell im Zeitalter der digitalen und der biologischen Transformation. Auch hier leistet die Bioökonomie einen großen Beitrag. Es ist die Bioökonomie, mit deren Hilfe die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN erreicht werden können oder die eine Umsetzung zirkulärer Wertschöpfungsketten ermöglicht. Und auch eine Realisierung des Green Deals der EU ist ohne Bioökonomie kaum zu schaffen.
RZ: Die Bioökonomie kann der Schlüssel zur Bewältigung einiger großer Herausforderungen sein wie Klimawandel, Bevölkerungsentwicklung, Energieversorgung oder auch Ressourcenverbrauch. Wie kommt die Bioökonomie denn voran?
CP: Die Umsetzung und nachhaltige Realisierung der Bioökonomie in der Welt zeigt sich bisher als langwieriger Prozess. Dies ist an der zögerlichen Entwicklung der Strategien in verschiedenen Ländern der Welt ablesbar. So hatten 2015, also 10 Jahre nach der Formulierung einer KBBE, lediglich 7 Nationen eigene dedizierte Bioökonomiestrategien, unter ihnen auch Deutschland.
Zögerliche Entwicklung von Strategien in der Welt
Weitere sieben Jahre später waren es 30 Nationen wie beispielsweise die EU, Finnland, Japan, Malaysia, Südafrika, USA, Österreich, Frankreich, Irland, Italien, Lettland, Nordische Union, Norwegen, Spanien, Thailand, UK, Spanien, Costa Rica, Ostafrikanische Union, Kolumbien, Uruguay, Portugal, Para (Brasilien), Queensland (Australien), China und die neue US-Initiative Biotechnology and Biomanufacturing etc.).
Im letzten Jahr kamen weitere Länder hinzu: Estland, Schweden und Irland. Eine Reihe von Ländern arbeitet noch an Strategien wie beispielsweise Dänemark, Ecuador, Swathini, Ungarn, Island, Litauen, Mexiko, Neuseeland, Äthiopien, Ghana, Slowenien, Burundi, Kenia, Brasilien und Indien.
In diesem Jahr stellten Namibia und Brasilien ihre Strategien vor. Japan publizierte eine aktualisierte Version seiner Strategie aus 2019.
Daneben gibt es sogenannte bioökonomie-orientierte Programme bzw. eigene regionale Strategien in mehr als 25 weiteren Staaten und Regionen. Bereits verabschiedet oder in Planung sind regionale Programme in Deutschland, beispielsweise in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Brandenburg, Saarland.
Zur Person
Christian Patermann studierte Jura an den Universitäten in Freiburg im Breisgau, Lausanne, Genf, München und Bonn. Von 1971 bis 1996 war er im Bundeswissenschaftsministerium tätig, wo er für die Forschung in der Raumfahrt, Umweltfragen und globalem Wandel engagiert war. Von 1996 bis 2007 war Patermann im Forschungsdirektorat der Europäischen Gemeinschaft verantwortlich für Umwelt und Nachhaltigkeit und prägte als Programmdirektor für „Biotechnology, Agriculture and Food“ insbesondere die Bioökonomie.
RZ: Zu den führenden Nationen in der Welt gehören beispielsweise auch die USA. Wie steht es dort um die Bioökonomie?
CP: Die USA haben vor knapp zwei Jahren die „Executive Order Biotechnology and Biomanufacturing for a safe and secure American Bioeconomy“, auch „Biotechnology and Biomanufacturing Initiative“ genannt, verabschiedet. Im September 2023 gab es im Weißen Haus einen erneuten „Bioeconomy Summit“, der die Umsetzung dieser Initiative unterstützen soll. Es gibt eine intensive Implementierung in einzelnen Schritten mit Budgets für Hunderte von Millionen US $, etwa für biobasierten Kautschuk (Löwenzahn als Rohstoff), biobasiertes Kerosin (einschließlich US-Luftwaffe) und biologische Wiedergewinnung von Phosphaten.
In den USA konzentriert man sich auf 12 konkrete Aktionen, wie beispielsweise die Nutzbarmachung der F&E, Verwertung von Daten für die Bioökonomie, Beschaffung biobasierter Produkte oder auch die Risikoverminderung durch Verbesserung der biologischen Sicherheit und der Biosicherheit
Auf dem Summit wurden dementsprechend zum Teil zu Europa unterschiedliche Treiber für die US Bioökonomie hervorgehoben wie beispielsweise die Gesundheit, die Biosicherheit und Biologische Sicherheit und auch die Betonung der nationalen Wertschöpfung und Rolle von China als künftigen Hauptkonkurrenten auch in den Lebenswissenschaften
Besonders lesenswert und relevant ist das Dokument des Weißen Hauses „Bold Goals for the U.S. Biotechnology and Biomanufacturing“ von März 2023 (Download siehe
unten). Darin lassen sich die strategischen Ziele der künftigen U.S. Bioökonomie nachlesen. Da geht es auch um Themen wie Wertschöpfungskette und Resilienz.
National Bioeconomy Board in USA
Abschließend sei hier angemerkt, dass das Weiße Haus im März 2024 ein „National Bioeconomy Board“ berufen hat, zu dem außer dem Weißen Haus die Ministerien für Verteidigung und Wirtschaft gehören. Dieses Board soll dazu beitragen, das Potenzial der Biotechnologie für die US-Wirtschaft zu erschließen und die Bioökonomie in den USA beschleunigt umzusetzen. Das Gremium wird mit Partnern aus dem öffentlichen und privaten Sektor zusammenarbeiten, um das gesellschaftliche Wohlergehen, die nationale Sicherheit, die Nachhaltigkeit, die wirtschaftliche Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit durch Biotechnologie und Bioproduktion zu fördern.
RZ: Auch China zählt zu den mehr und mehr aufstrebenden Ländern. Spielt dieses Land in Sachen Bioökonomie eine Rolle?
CP: Oh ja! Die chinesischen Bioökonomie-Prioritäten ähneln stark denen in den USA und weichen teilweise auch von den europäischen ab. Themen sind hier Medizin und Gesundheit, Innovationen in Landwirtschaft und Ernährung, Energie, Sicherheit biologischer Ressourcen und auch hier die biologische Sicherheit und Biosicherheit.
Diese Entwicklungen werden sicherlich auch für Europa eine Herausforderung darstellen und kündigen wichtige Trends an, zumal sich Indien und seit kurzem auch Brasilien stark an der US-Initiative orientieren und ähnliche Initiativen angekündigt haben. In Europa stellen wir derzeit eine Reihe weiterer eigenständiger Trends in der Bioökonomie fest. Da redet man über die Kombination von Kreislaufwirtschaft mit Bioökonomie und vice versa oder auch die Anerkennung der wachsenden Rolle der Bioökonomie bei der Erreichung der SDG's. Besonders ist hier das bisher wenig genutzte Potenzial in urbanen und präurbanen Regionen (SDG 11) zu nennen.
RZ: Was wird sonst an Bedeutung gewinnen? Welche Trends zeichnen sich ab, die zukünftig wichtig werden?
CP: Kreislaufwirtschaft und Bioökonomie werden immer häufiger als echte Partner im Rahmen der nachhaltigen
Entwicklung anerkannt. Dies ist im Bericht der European Environmental Agency EEA von August 2018 beschrieben (Download siehe unten). Dazu gewinnen Technologien wie Bioraffinerien, der 3D-Druck
mit Bioplastik oder neue Wertschöpfungen aus Abfall, besonders aus Nahrungsmitteln, stark an Bedeutung.
Was weitere Entwicklungen betrifft, so zeigt sich eine größere Komplexität und Vielfalt bei der Definition der strategischen und politischen Ziele und Motive der jeweiligen Bioökonomien. Wirklich große Themen sind hier die biologische Transformation, die Erreichung der Klimaziele gemäß Pariser Abkommen, als Antwort auf die „global changes“ oder auch die Sicherung sogenannter kritischer Rohstoffe wie Lithium, Kobalt, Phosphor.
Dies alles ist wichtig und dringend. Gleichwohl gibt es Hürden zu nehmen wie die Bürokratie oder die Frage der Finanzierung. Die Frage der Hindernisse und Mängel in der Finanzierung entlang der bekannten TRL-Skala wird thematisiert und untersucht. Ergebnisse sind in etwa einem Jahr zu erwarten (EIB Studie). Ebenso werden Überlegungen formuliert, mehr private und öffentliche Investitionen zu erreichen.
Erste urbane Bioökonomiestrategie in Stuttgart
Zu bedenken ist auch dies: Bis vor wenigen Wochen gab es weltweit keine einzige urbane Bioökonomiestrategie! Einzig in Deutschland entstanden erste Initiativen, in Bundesländern oder Kommunen regionale Bioökonomie-Konzepte auf die Beine zu stellen. Tatsächlich wurde am 30. April 2024 mit der „Zirkulären Bioökonomiestrategie Landeshauptstadt Stuttgart“ (ZirBioS) die erste urbane Bioökonomiestrategie weltweit vorgestellt.
Wir sehen, die Bioökonomie insgesamt zeigt (noch) ein sehr buntes, eher fragmentiertes, aber äußerst dynamisches Bild. Man erkennt: Es bleibt noch sehr viel zu tun.
RZ: Herr Dr. Patermann, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Anmerkungen der Redaktion:
Wie oben ausgeführt, hat die Europäische Kommission im März 2024 das Papier „Mit der Natur die Zukunft gestalten“ zur angestrebten Nutzung der Biotechnik vorgestellt. Insbesondere werden im Papier zahlreiche Maßnahmen vorgestellt, die zur Lösung aller offenen Probleme beitragen sollen. Es geht um den Rechtsrahmen, die Förderung von Scale up, den Einsatz von KI, die Förderung öffentlicher und privater Aktivitäten, den fairen Vergleich mit fossilen Ressourcen, Marktfragen und die Überprüfung der EU-Strategie aus 2018.
Dieses Papier haben wir ausführlich vorgestellt: www.rheinzeiger.de/bioökonomie/bioökonomie-in-europa-2024/.
Diese Publikation ist ein hochspannendes Werk und zeigt hoffnungsvolle Wege in die Zukunft. Hier finden sich zahlreiche Beispiele für Strategien zur nachhaltigen Gestaltung der Zukunft.
Die Dynamik der Bioökonomie auch in Europa ist hoffentlich ungebrochen. Vielleicht bewirkt das Papier einen neuen "Push" für Entwicklungen der Bioökonomie, vielleicht auch für Investitionen in zirkuläre Wertschöpfungsketten. Erstmals wird die Rolle der Künstlichen Intelligenz (KI) für die Biotechnologie und das Biomanufacturing deutlich und sichtbar und damit strategisch relevant gemacht. Hervorzuheben ist auch eine Bedeutung für regionale Entwicklungen durch Schaffung sogenannter RIV's "Regional Innovation Valleys", für dedizierte Zwecke, wie Food, New Materials und anderes.
Wir haben es in der Hand, konkret die Bioökonomie und damit die Zukunft zu gestalten. Wir sollten erkannt haben, dass eine weitere Ausbeutung des Planeten Erde kein erstrebenswertes Zukunftsbild ergeben wird. Eine Bioökonomie, wie immer wir sie gestalten, kann die Lösung sein. Dabei sollten wir nicht vergessen, zukunftsorientierte Strategien auch umzusetzen, selbst wenn sie unseren Alltag verändern. Wir sind aufgerufen, über wünschenswerte Zukunftsbilder zu diskutieren und die Globalisierung für Mensch und Planeten nutzbringend neu auszurichten. Was wir brauchen, ist eine gute Kommunikation und eine gut organisierte Kooperation.
Und auch dies ist einen Gedanken wert: Wie im BIOspektrum 03.24 zu lesen war, verliert die deutsche Industrie an Bedeutung. Martin Langer von der BRAIN Biotech AG
betont, dass für nachhaltiges Wirtschaftswachstum die Bioökonomie einer der Garanten ist. Dazu müssen gleichwohl die Rahmenbedingungen passen und die Bürokratie abgebaut werden. Als wesentlichen
Erfolgsfaktor sieht er ein unemotionales Unterhaken von Politik, Industrie und Gesellschaft. Dem kann man nur zustimmen.
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